Ilmunud Frankfurter Allgemeine Zeitungis 24. juunil
Wir müssen über die Ukraine reden. Ohne allzu viel internationale politische Korrektheit und ohne Wunschdenken: Darüber, was die EU tatsächlich will und was sie zu tun bereit ist. Wenn die EU möchte, dass die Ukraine sich mit Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftlichen Reformen vorwärts bewegt und nicht unter dem militärischen und sonstigen Druck Russlands zusammenbricht, muss viel mehr getan werden, und das muss viel schneller geschehen.
Was haben die EU und die Vereinigten Staaten bisher getan – und was hätte getan werden können, um der Ukraine zu helfen, trotz aller Schwierigkeiten auf dem Weg zu einem Rechtsstaat und Marktwirtschaft zu bleiben? Zu allererst geht es um schnelle Finanz- und Reformhilfen. Auf dem Gipfel der „Östlichen Partnerschaft“ der EU in Riga wurde vor kurzem ein Kredit über 1,8 Milliarden Euro als etwas Außerordentliches präsentiert. Das ist kein besonders großer Sprung nach vorne. Der Ministerpräsident der Ukraine hat gesagt, dass ihr derzeitiger Minimalbedarf 25 Milliarden Euro beträgt. Diese oder sogar eine größere Summe können sich die EU, die Vereinigten Staaten und andere Geber leisten. Griechenland zum Beispiel hat bis jetzt etwa zwanzig Mal so viel erhalten.
Die ukrainische Gesellschaft ist deprimiert durch den Krieg, und sie braucht starke emotionale Unterstützung von der EU. Die hat sie auf dem Gipfel der „Östlichen Partnerschaft“ in Riga leider nicht bekommen. Dort wurde eine Entscheidung über einen Zeitplan erwartet: Indem sie die Bürger der Ukraine visumfrei reisen lässt, könnte die EU zeigen, dass sie ihnen vertraut. Diese Art der Unterstützung wird gerade jetzt dringend benötigt. Selbst wenn die Mehrheit der Ukrainer die Möglichkeit des visumfreien Reisens in vorhersehbarer Zukunft nicht nutzen würden, weil ihnen die Mittel fehlen, wäre es doch ein sehr wichtiger positiver Impuls. Hinzu kommt, dass die Bürger der Ukraine vor den Bürgern Russlands visumfrei in die EU reisen könnten.
Die EU muss der Ukraine regelmäßig und verlässlich sagen, dass jedes Land, das die nötigen Kriterien erfüllt, sich um die EU-Mitgliedschaft bewerben kann. So seltsam und frustrierend es für die Ukraine sein mag, die EU-Länder waren nicht in der Lage, sich auf diese klare Botschaft zu einigen, nicht einmal vor dem jüngsten Gipfel der „Östlichen Partnerschaft“. Das ist ein Signal, wie groß das Interesse an einer vollständigen Transformation der Ukraine in eine westliche Demokratie tatsächlich ist.
Es war vorgesehen, dass alle EU-Mitglieder das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, das vor einem Jahr geschlossen wurde, bis zum Gipfel der „Östlichen Partnerschaft“ ratifizieren. Aber das wurde nicht erreicht. Acht Länder haben die Vereinbarung nicht ratifiziert, und vier, darunter Griechenland und Zypern, haben noch nicht einmal den dafür nötigen Prozess begonnen.
Wenn es unrealistisch ist, eine Einigung über Waffenlieferungen an die Ukraine zu erzielen, dann sollten viele andere Unterstützungsaktionen stärker als bisher geleistet werden. Zum Beispiel humanitäre Hilfe für Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, Hilfe und Beratung bei Cyberangriffen, jede Art von Hilfe bei Logistik und Versorgung. Die Häuser, die bei den Raketenangriffen in Mariupol im Januar zerstört wurden, sind aus Mangel an Mitteln bisher nicht wiederhergestellt worden.
Die EU, die Vereinigten Staaten und andere westliche Länder stehen vor der fundamentalen Entscheidung, ob sie der EU wirklich in den politischen und wirtschaftlichen Raum des Westens helfen wollen, oder ob dieses Ziel nicht so ernst gemeint ist. Wenn die Antwort „Ja“ lautet, dann muss mit einem großen und umfassenden Hilfs- und Reformprogramm begonnen werden. Europa hat eine ähnliche Erfahrung aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Um diese Vorhaben zu verwirklichen, wären Dutzende Milliarden Euro, ein gründlicher Reformplan und Tausende Fachleute notwendig. Außerdem wären Investitionen großer westlicher Unternehmen in den ukrainischen Energiesektor und andere Branchen nötig. Die Ukraine beginnt mit einem großen Privatisierungsprogramm, und westliche Unternehmen sollten daran unbedingt teilnehmen. Zusammen mit dem Geld und dem Wissen von Unternehmen aus demokratischen Ländern bekäme die Ukraine eine andere Art von Arbeitskultur und Prinzipien, die hilfreich bei der Bekämpfung der Korruption wären.
Es gibt nicht mehr viel Zeit für all das. Die ukrainische Gesellschaft ist am Bruchpunkt angelangt, und die russische Erschöpfungstaktik scheint zu funktionieren. Das wichtigste ist nun: Gibt es genügend europäische und amerikanische Politiker, die ernsthaft bereit sind, zum Wandel in der Ukraine beizutragen? Oder ist die gegenwärtige Unsicherheit zufriedenstellend, so dass, wenn die Ukraine zurück unter den Einfluss Moskaus fallen würde, das mit Seufzen und Kommentaren aufgenommen würde, das sei unausweichlich gewesen?
Der Autor ist Abgeordneter im Europäischen Parlament, wo er der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa angehört, und war von 2005 bis 2014 Außenminister Estlands